Ein plurales Wirtschaftsstudium kann mit einer Reflexion der krisenhaften Gegenwart beginnen, die die realweltlichen Erfahrungen und Emotionen der Studierenden aktiviert und zum Ausgangspunkt des gemeinsamen Lernens macht
von Sebastian Möller
Krise – Welche Krise?
Wir leben und lernen inmitten von bedrohlichen Krisen, tiefgreifenden Veränderungen und oft unübersichtlichen und widersprüchlichen Entwicklungen, die unsere bisherigen Routinen und Wahrnehmungsmuster herausfordern und etablierten Lebensstilen ihre Grundlage entziehen. Neben der sich permanent zuspitzenden Klimakrise und der globalen Gerechtigkeitskrise sind wir mit einer Vielzahl verschiedener Krisen konfrontiert, die sich z.T. gegenseitig bedingen und verstärken. Was wir als Krise wahrnehmen und wie wir Krisen beschreiben ist dabei u.a. abhängig von unseren eigenen Erfahrungen, unserer Sozialisation, hegemonialen Diskursen und der jeweils eingenommenen Perspektive. Schließlich zeigt etwa die Debatte um die sog. imperiale Lebensweise (Brand/Wissen 2017), dass von uns empfundene Normalzustände nicht selten auf räumlich oder zeitlich verlagerten Krisenzuständen beruhen. In diesen Fällen machen wir selbst kaum direkte Krisenerfahrungen, was erheblich zur Stabilisierung und Reproduktion der ausbeuterischen Verhältnisse beiträgt. Wir werden aber in politischen und wissenschaftlichen Diskursen zunehmend mit ihren krisenhaften Folgen konfrontiert. Das ist schmerzhaft, aber (zumindest potentiell) transformativ. Auch im Studium sollten wir uns noch viel mehr mit eigenen und vermittelten Krisenerfahrungen auseinandersetzen, denn sie bieten einerseits wichtige Lerngelegenheiten, und das Wissen um Krisen ist andererseits nahezu überlebenswichtig in einer Welt, in der Krisen zum Normalzustand werden.
Was wir heute erleben, ist eine Vielfachkrise mit einer kaum überschaubaren Anzahl an Facetten. In der Management-Literatur wird diese Konstellation oft als vuca world - also eine volatile, unsichere, komplexe und ambivalente Welt - beschrieben, die uns individuell und kollektiv vor große Herausforderungen im Denken und Handeln stellt. Wie kann nun ein Wirtschaftsstudium aussehen, das zum möglichst souveränen und reflektierten Umgang mit diesen fundamentalen Herausforderungen befähigt und junge Menschen inmitten großer Unsicherheiten handlungs- und gestaltungsfähig macht? Mit dem Seminar „Gegenwartsreflexion: Ökonomie & sozial-ökologische Herausforderungen“ versuchen wir an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung eine (Teil)Antwort auf diese Frage zu geben. Es markiert den gemeinsamen Beginn unserer drei interdisziplinären Ökonomie-Masterstudiengänge und macht eine erfahrungs- und theoriebasierte Krisenreflexion zum Ausgangspunkt einer neuen ökonomischen Bildung. Im Folgenden skizziere ich einige zentrale Aspekte dieses Blockseminars in der Hoffnung, andere Lehrende und Studierende damit zu inspirieren.
Seminaridee: Erfahrungs- und handlungsorientiert lernen
Im Seminar „Gegenwartsreflexion“ machen wir die individuelle Krisenverständnisse der Studierenden zum Ausgangspunkt des gemeinsamen Lernens und bringen diese in einen produktiven Dialog mit einschlägigen sozialwissenschaftlichen Gegenwartsdiagnosen und Literatur über Ökonomisierung. Auf diese Weise nehmen wir Krisen als Bruch mit etablierten Wahrnehmungen und Routinen didaktisch und auch performativ ernst. Inmitten von Krisen müssen auch etablierte Routinen ökonomischen Lehrens und Lernens radikal gewandelt werden (siehe dazu auch Schröder et al. 2022). Das bedeutet zunächst, dass die anonyme Einführungsvorlesung einem interaktiven Seminarformat weichen muss, das echte persönliche und inhaltliche Begegnungen ermöglicht. Der nötige didaktische Wandel schließt aber auch eine interdisziplinäre Bearbeitung ökonomischer Fragestellungen, das Thematisieren von Emotionen als Erkenntnis- und Reflexionsinstrumentarium sowie eine konkrete Handlungs- und Gestaltungsorientierung ein. Denn Krisen sind immer auch besondere Gelegenheitsfenster für Gesellschafts-, Institutionen- und Zukunftsgestaltung. Krisen sind keine Naturgesetze, sondern durch politisches und ökonomisches Handeln erzeugt. Das heißt, wir können auch eine weniger krisenhafte Wirtschaft und Gesellschaft gestalten.
Wir starten also mit einer erfahrungsbasierten Gegenwartsreflexion in das Ökonomie-Studium und schließen damit nicht – wie in der gängigen Makro- und Mikroökonomik üblich – die Realität durch zahlreiche Vorannahmen aus, die die standardökonomischen Modelle erst handhabbar bzw. rechenbar machen. Im Gegensatz zur Eindeutigkeit dieser Modelllogik wollen wir gerade die Vielfalt und Widersprüchlichkeit individueller und kollektiver Erfahrungen, Wahrnehmungen und Interpretationen von Wirtschaft im Allgemeinen und in spezifischen Krisen sichtbar und für das gemeinsame Lernen nutzbar machen. Daraus ergeben sich dann eine Reihe von weiterführenden Fragen, die aber nicht schon sofort beantwortet werden können und müssen. Diese Vielfalt und Offenheit auszuhalten ist nicht immer ganz einfach, aber es lohnt sich!
Studentische Krisenverständnisse als gestaltbare Poster
Schon vor Beginn des Seminars wurden die Studierenden gebeten jeweils ein Poster zu einer konkreten Krise, die sie beschäftigt, und dem, was sie allgemein unter dem Begriff der Krise verstehen, anzufertigen. Diese Poster haben wir dann im Seminarraum aufgehangen, sodass unser Seminar mit einem Ausstellungsbesuch zur krisenhaften Gegenwart beginnen konnte. Die Seminarteilnehmer:innen diskutieren ihre Beobachtungen, stellen Fragen, vergleichen, stellen die Poster anderer Studierender und ihre eigenen vor und entwickeln sie im Seminar mit der Hilfe von gezielten Reflexionsfragen weiter. Auf diese Weise gehen wir auf die Suche nach dem Grundlegenden und Gemeinsamen unterschiedlicher Krisen. Diese Vorgehensweise ist zunächst noch recht assoziativ, geht explorativ vor und nutzt die thematische, begriffliche und gestalterische Kreativität der Studierenden. Dabei werden zugleich neue Spielräume des Denkens und Handels für das gemeinsame Studium eröffnet. Studierende können die sehr wertvolle Erfahrung machen, dass ihre eigenen Erfahrungen und Perspektiven etwas beitragen zum gemeinsamen Start in das Wirtschaftsstudium. Sie können dabei schrittweise ein Zutrauen in das im Seminarraum vorhandene (Erfahrungs-)Wissen gewinnen.
Die mitgebrachten Krisenverständnissen unterscheiden sich u.a. in Bezug auf die ihre Nähe bzw. Distanz zu eigenen persönlichen Erfahrungen. Das wirft die Frage auf, wie nah uns Probleme eigentlich kommen müssen, damit wir sie gestalten können. Viele von uns (und hier schließe ich mich selbst explizit ein) neigen dazu, eher abstrakte Theorien, Konzepte und aggregierte Daten als individuelle Erfahrungen und Emotionen zum Ausgangspunkt (wissenschaftlicher) Erkenntnisprozesse zu machen. Dabei können uns Erfahrungen und Emotionen sehr viel über Wirtschaft und Gesellschaft sagen. Viel mehr noch: Sie können uns zum Handeln und Gestalten inmitten von Krisen befähigen! Es braucht also eine vertrauensvolle und geschützte Seminar- und Lernkultur, die Emotionalität zulässt und den Umgang mit ihr thematisiert. Diese Kultur muss immer wieder aufs Neue eingeübt und aktualisiert werden.
Eine weitere interessante Beobachtung zu den Krisendarstellungen bezieht sich auf ihren Strukturiertheitsgrad. Viele Poster leisten schon eine erhebliche Sortierungs- und Strukturierungsarbeit. Jeder Darstellung liegen viele implizite Entscheidungen zugrunde, deren prinzipielle Offenheit wir uns bewusst machen sollten, um neues auszuprobieren, unser Denken in Bewegung zu bringen und Multiperspektivität einzuüben. Es ist bemerkenswert, dass wir (auch hier wieder inkl. mir selbst) dazu neigen, Krisen selten so chaotisch darzustellen, wie sie uns in unserer Alltagserfahrung begegnen. Die Reflexion der eigenen Krisendarstellungen und das Ausprobieren neuer Darstellungsformen gehört zum Lernprozess in diesem Seminar.
Wer oder was ist eigentlich Wirtschaft? Zeitung lesen & Spuren suchen im Seminar
Zur Annäherung an die trivial anmutende Frage nach dem Wesen von Wirtschaft konnten sich die Studierenden zwischen einem ethnografischen Stadtspaziergang und der Lektüre von Wirtschaftsteilen überregionaler Tages- und Wochenzeitungen entscheiden. Die Erfahrung, die wir dabei machten: Wer Wirtschaft sucht, entdeckt sie plötzlich überall. Als Strukturen und Praktiken der Versorgung ist Wirtschaft omnipräsent. Das macht die Beantwortung der Frage "Wo ist eigentlich keine Wirtschaft?" ziemlich schwierig. Dieser Eindruck zeigt schnell auf, welche Vielfalt an sehr unterschiedlichen Phänomenen mit Wirtschaft gemeint sein kann. Das steht im Kontrast zu vielen Assoziationen und Bildern, die wir oft mit Wirtschaft verbinden. Im Wirtschaftsteil der Zeitung ist übrigens viel häufiger von Krisen die Rede als in den allermeisten Standardlehrbüchern, die Krisen als Ausnahmezustände eines ansonsten regelhaften und vorhersehbaren Systems verhandeln. Bei der Zeitungslektüre finden wir auch viele bekannte wirtschaftspolitische Narrative und sehr unterschiedliche Darstellungsformen (von der bebilderten Reportage zu einem Unternehmen bis hin zu Börsendaten).
Empirie trifft Theorie: Sozialwissenschaftliche Zeitdiagnosen
Anschließend an Aktivierung unseres Erfahrungswissens und der gemeinsamen Zeitungslektüre haben wir die so gewonnenen Erkenntnisse mit einigen Schlaglichtern auf ausgewählte sozialwissenschaftliche Gegenwartsdiagnosen zur Vielfachkrise kontrastiert und erweitert. Dabei waren uns u.a. eine interdisziplinäre Betrachtungsweise von ökonomischen Phänomenen und die Besprechung aktueller Forschungsliteratur zur Entwicklung kapitalistischen Wirtschaftens auf der Makro-, Meso- und Mikroebene besonders wichtig. In diesem Seminarblock haben wir uns u.a. mit dem Zusammenhang zwischen ökonomischen Entwicklungen und der Legitimationskrise der Demokratie (Fraser 2019, Manow 2018, Streeck 2013), Macht- und Ausbeutungsverhältnissen in globalisierten Lieferketten (Philipps 2017) und der Literatur zu den zahlreichen Facetten von Ökonomisierung beschäftigt (Graf 2019, Schimank/Volkmann 2017). In Bezug auf Ökonomisierungsphänomene haben wir schließlich zum Abschluss der Seminarwoche gemeinsam über Gegenpraktiken und Handlungsspielräume nachgedacht. In den anderen beiden Seminarblöcken dieses Moduls haben sich die Studierenden mit den ökologischen Krisen und der Krise der Wirtschaftswissenschaft selbst sowie mit Transformationstheorien beschäftigt.
Fazit: Gegenwartsreflexion in der Lerngemeinschaft
Im Seminar "Gegenwartsreflexion" haben wir sehr gute Erfahrungen mit einer erfahrungs- und handlungsorientierten Didaktik und einem kontinuierlichen Hin- und Herwandern zwischen Empirie und Theorie gemacht. Es ist ein kraftvoller und inspirierender Einstieg in das interdisziplinäre Wirtschaftsstudium und hat zugleich eine nicht zu unterschätzende soziale Funktion: Studierende lernen sich mit ihren Anliegen und Fragen kennen, können sich ausprobieren und konstituieren sich als Lerngemeinschaft. Wie immer ist ein gelungenes Seminar eine Gemeinschaftsleistung und ich war sehr beeindruckt von dem hohen Engagement, den vielen klugen Fragen und der enormen Kreativität der Seminarteilnehmer:innen. Wir werden das Seminarkonzept kontinuierlich weiterentwickeln und ich freue mich schon sehr darauf, es mit den neuen Master Jahrgängen 2022 durchzuführen!
Habt ihr weitere Ideen oder andere Beispiele, wie wir im Wirtschaftsstudium in und an Krisen lernen können?
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