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Die Vielfalt des Wirtschaftens (1/2)

Wirkmächtige Bilder im Spiegel der Zeit


von Valentin Sagvosdkin


Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Bildliche Darstellungen „der Wirtschaft“ sind ungemein wirkmächtig. Sie enthalten Theorien und Normen, das heißt, Ideen darüber, was überhaupt Wirtschaft ist, wie sie funktioniert oder auch wie sie sein sollte oder könnte. Sie sind nicht „neutral“. Für eine Transformation der Wirtschaft brauchen wir neue Bilder. Bilder, die die Vielfalt des Wirtschaftens veranschaulichen und damit aufzeigen, was möglich ist.

In diesem ersten Beitrag der zweiteiligen Reihe werden fünf unterschiedliche Bilder "der Wirtschaft" reflektiert. Jedes enthält spannende Aspekte - und kommt an der ein oder anderen Stelle an seine Grenze.



Darstellung der Wirtschaft als mechanischer Kreislauf. Diagramm aus Kreisen, Rechtecken und Pfeilen.
Abbildung 1: Wirtschaft als mechanischer Kreislauf (Darstellung orientiert an Samuelson/Nordhaus 2007:55)

Beginnen wir mit einem typischen Bild „der Wirtschaft“. Es ist dem internationalen Lehrbuch für Makro- und Mikroökonomie der Standardökonomen Paul A. Samuelson und William D. Nordhaus entnommen, das international millionenfache Auflagen erzielt:

Wirtschaft wird als mechanischer Kreislauf konzeptualisiert. Auf der einen Seite sind Konsumenten abgebildet, deren Kaufkraft die Nachfrage nach Produkten ausmachen sollen. Das Eigentum an Produktionsmitteln Arbeit, Boden und Kapitalgüter stellt ein Angebot für Faktormärkte dar. Auf der anderen Seite stehen Unternehmen, die Arbeit, Boden und Kapitalgüter nachfragen und Produkte anbieten. Die Preise entstehen hier idealtypisch jeweils durch Angebot und Nachfrage. Mit Wirtschaft ist hier Marktwirtschaft gemeint. Eine harmonische Welt ohne Konflikte, Ungleichheit, Ausbeutung, Marktmacht oder solidarischer Versorgungsstrukturen. Marktversagen stellt die Ausnahme von der Regel dar. Obwohl es in der Forschung vielfach hinterfragt wird, prägt dieses Modell noch immer den Einstieg ins Studium für nahezu alle Studierenden.


„Die Wirtschaft“ ist eine Imagination

Der Ökonom Walter Ötsch reflektiert, wie diese mechanische Imagination von Wirtschaft kulturgeschichtlich entstanden ist: Maschinen-Metaphern lassen sich in philosophischen und religiösen Schriften bis weit ins Mittelalter hinein zurückverfolgen. Sie bekamen vor allem durch die Erfindung der mechanischen Räderuhr im 13. Jahrhundert einen starken Aufschwung (Ötsch 2018: 10). Für den Bereich „der Wirtschaft“ konnte sie erst im 18. Jahrhundert zum Tragen kommen:

Scan der Originaldarstellung des Tableau Economique von Francois Quesnay
Abbildung 2: Tableau Économique

Eine Vorstellung von „der Wirtschaft“ als eigenständiger Bereich „der Gesellschaft“ wurde im Wesentlichen erst zu dieser Zeit von den Physiokraten entwickelt, einer französischen Schule der Ökonomie (Ötsch 2018: 15). Die Wirtschaft wurde wie ein Uhrwerk betrachtet, das von außen – den Kräften der Natur – gesteuert wird. Der Ökonom Francois Quesnay (1694-1774) entwarf ein Tableau Économique, das die Wirtschaft als eine Art Kreislaufsystem darstellt, das Geldflüsse zwischen den verschiedenen Klassen – vereinfacht gesagt – Grundeigentümern, Arbeitern und Kaufleuten enthält (ebd; Ziegel 2008: 53f). Das Bild eines (Wirtschafts-)Kreislaufes unterstütze die Idee, keine falschen „Eingriffe“ von Seiten der Politik vorzunehmen. Entsprechend lautete das Schlagwort des frühen Wirtschaftsliberalismus laissez-faire, laissez-passer (lassen Sie machen, lassen Sie laufen!) – dessen Ursprung jedoch auch im Kontext der Kritik gegen einen absolutistischen Staat betrachtet werden muss.


Es ließe sich noch viel über frühere Ursprünge und später Fortführungen mechanischer Metaphern im Denken über Wirtschaft erzählen (Ötsch/Graupe 2020). Mit diesem kurzen Schlaglicht sollte aber schon deutlich geworden sein: Bilder über Wirtschaft sind keine „objektiven“ Abbildungen. Sie entstehen in historischen Kontexten. Mitunter enthalten sie politische Botschaften. Einige Aspekte von Bildern verändern sich, andere werden irgendwann als „selbstverständlich“ wahrgenommen.


Die Wirtschaft als drei Sektoren

Schematische Darstellung der 3 Wirtschaftssektoren
Abbildung 3: Die Wirtschaft als drei Sektoren (Quelle: Duden-Verlag 2016).

So ist es heute gängig, die Bereiche der Wirtschaft im Wesentlichen in drei Sektoren einzuteilen (siehe Abbildung 3): Den Primärsektor, der aus Rohstoffgewinnung und der Urproduktion wie Landwirtschaft und Fischerei besteht. Den sekundären Sektor der Bereiche wie Rohstoffverarbeitung, Industrien, Handwerk und Wasserversorgung enthält. Und den tertiären Sektor der alle Dienstleistungen umfasst [1]. Dieser Ansatz stammt aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Er geht auf die Ökonomen Allan G.B. Fisher und Colin G. Clark zurück und wurde in Deutschland vor allem durch Jean Fourastié bekannt. Mit dieser Einteilung gingen Theorien für den Strukturwandel von Volkswirtschaften einher: Im Laufe ihrer industriellen Entwicklung würde der primäre Sektor in Volkswirtschaften gemessen am BIP eine geringere Rolle spielen und perspektivisch der Dienstleistungsbereich immer bedeutender. Weniger treffend war dabei die Vorstellung, dass die Nachfrage nach Dienstleistungen unbegrenzt und daher eine Beseitigung der Arbeitslosigkeit greifbar sei. Es lässt sich fragen, ob eine solche Kategorisierung eine implizite Geringschätzung der Natur Vorschub leistet (Loske 2021). Ist es außerdem noch zeitgemäß, von „unterentwickelten“, „entwickelten“ und „hoch entwickelten“ Volkswirtschaften zu sprechen, wo letztere am meisten die ökologische Vielfachkrise verantworten?

Schließlich bleiben Bereiche der Wirtschaft wie Kultur oder Care-Arbeit (ob nun bezahlt oder „privat“) unsichtbar – zumal im Begriff „Dienstleistung“ das monetär-marktwirtschaftliche Wie schon enthalten ist.


Wirtschaft als Eisberg

Abbildung 4: Eisberg-Analogie: Der sichtbare und unsichtbare Teil der Ökonomie (Darstellung orientiert an Mies/Shiva 1995).
Abbildung 4: Eisberg-Analogie: Der sichtbare und unsichtbare Teil der Ökonomie (Darstellung orientiert an Mies/Shiva 1995).

Die Ökofeministinnen Maria Mies und Vandana Shiva wählen eine Eisberg-Analogie zur Darstellung der Wirtschaft, um genau diese Aspekte zu beleuchten (Mies/Shiva 1995): Kapital und Lohnarbeit sind in dem Bild der sichtbare Teil an der Oberfläche, während Heim- und Kinderarbeit, Subsistenz, Kolonien und letztlich die Natur den unsichtbaren Teil der Ökonomie ausmachen.

Sicherlich ließen sich noch viele weitere Aspekte der „sichtbaren“ und „unsichtbaren“ Ökonomie zuordnen oder auch Graubereiche wie prekäre Beschäftigung ergänzen. Ein Bild stellt immer die Reduktion von Komplexität dar und macht damit deutlich, was die Autor:innen hervorheben wollen. Hier sind es genau solche Aspekte, die im standardökonomischen Bild und der drei-Sektoren-These fehlen: Macht und Ausbeutung, Care-Arbeit und Natur.


Die eingebettete Wirtschaft

Für die Ökonomie Kate Raworth ist die Einbettung der Wirtschaft in Gesellschaft und Natur ein Anliegen. In ihrem viel beachteten Werk der „Donut-Ökonomie“ (Raworth 2018) ersetzt sie daher das Bild des mechanischen Kreislaufs der Standardökonomik. Sie entwürft die Ökonomie als Theaterstück und kritisiert „das neoliberale Skript des 20. Jahrhunderts“: Einigen Akteuren wurden dort führende und als unfehlbar geltende Rollen zugesprochen (Markt, Unternehmen, Finanzwirtschaft, freier Handel), während andere Rollen als inkompetent dargestellt (Staat, Allmende) oder an den Rand gedrängt bzw. ausgeblendet wurden (Haushalte, Gesellschaft, Erde, Macht) (ebd., S.93f) . Daher teilt Raworth in ihrem Skript die Wirtschaft in vier gleichberechtigte Sphären auf(ebd., S.99f): Markt, Staat, Allmende und Haushalte.


Allerdings übernimmt sie eine Kategorien-Vermischung aus dem neoliberalen Skript, wenn sie schreibt: „Die verteilte Effizienz des Marktes ist tatsächlich außergewöhnlich, und der Versuch, eine Wirtschaft ohne ihn zu betreiben, führt in aller Regel zu Versorgungsengpässen und langen Warteschlangen“ (ebd., S. 110). Wie kann „der Markt“ gleichzeitig eine Sphäre und ein handelnder Akteur sein? Durch die Personifikation erscheint „der Markt“ als eine Einheit, während gleichzeitig im Buch eigentlichvon einer vielfältigen Wirtschaft und von innovativen Unternehmen, später auch von gemeinwohlorientierten Konzepten die Rede ist (ebd.: 99f; 286). Das eingängige Bild der vier Sphären kommt hier an seine Grenze, da es nicht diese Vielfalt an unternehmerischen Handlungsmöglichkeiten zu vermitteln vermag: Das breite Spektrum zwischen gewinnmaximierendem, solidarischen und gemeinwohl-orientierten Unternehmungen verschwindet hinter dem Einheitsbegriff „Markt“. Der „Staat“ ist ein ähnlicher Container-Begriff. Im Text differenziert Raworth zwar, indem sie dem Staat vier Aufgaben zuschreibt: Er soll öffentliche Güter anbieten, die Fürsorgerolle von Haushalten unterstützen, die Allmende fördern und den Markt in Institutionen und Regulierungen fürs Gemeinwohl einbinden. Wäre nun aber ein öffentliches Unternehmen in kommunaler Hand, das sich an Effizienz und Wirtschaftlichkeit orientiert Teil „des Marktes“, oder Teil „des Staates“? Anders gesagt: Ob eine Unternehmung gemeinwohl- oder gewinnorientiert handelt, hängt nicht unbedingt davon ab, ob es in staatlicher oder privater Hand ist.Es hängt davon ab, waswer wiewomacht – und vor allem: Warum.

Im zweiten Teil der Reihe "Vielfalt des Wirtschaftens" rücken wir diesem Sinne das Warum ins Zentrum und fragen: Nach welchen Zielen und Werten wirtschaften wir eigentlich?

 
Literatur und weiterführende Links

[1] Inzwischen wird oftmals der Informationssektor als vierter Bereich und teilweise Tourismus- und Gesundheitswesen als Quintärsektor betrachtet (mehr siehe Geographie-Wiki) Duden-Verlag (2016): Dienstleistungssektor. Aus: Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 6. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2016. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2016. Abgerufen auf: https://m.bpb.de/nachschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/19052/dienstleistungssektor, (26.01.2022). Loske, Reinhard (2021): Die wuchtige Rückkehr des Elementaren Mies, Maria/Shiva, Vandana (1995): Ökofeminismus: Beiträge zur Praxis und Theorie. Zürich: Rotpunktverlag. Ötsch, Walter Otto (2018): Bilder in der Geschichte der Ökonomie. Das Beispiel der Metapher von der Wirtschaft als Maschine (Nr. 42). Working Paper SerieBernkastel-Kues: Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung. Ötsch, Walter Otto/Graupe, Silja (Hg.) (2020): Imagination und Bildlichkeit der Wirtschaft. Zur Geschichte und Aktualität imaginierter Fähigkeiten in der Ökonomie. Wiesbaden: Springer. Quesnay, Francois (1759): „Tableau Économique“ (eine schematische Darstellung der Volkswirtschaft) des französischen Ökonomen Francois Quesnay (1694-1774) Raworth, Kate (2018): Die Donut-Ökonomie: Endlich ein Wirtschaftsmodell, das den Planeten nicht zerstört. München: Carl Hanser (E-Book-Version). Samuelson, Paul Anthony/Nordhaus, William D. (2007): Volkswirtschaftslehre: das internationale Standardwerk der Makro- und Mikroökonomie. Landsberg am Lech: MI Wirtschaftsbuch.

Valentin Sagvosdkin



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