Transnationale Solidarität fußt auf tiefen Beziehungen – Überlegungen aus der Praxis des Netzwerks Afrique Europe Interact
Von Lars Springfeld
„Emergent strategy“ und mein Engagement im Netzwerk Afrique Europe Interact (AEI) bilden die Ausgangspunkte der folgenden Überlegungen. „Emergent strategy“ wurde als Konzept von der US-Amerikanerin adrianne maree brown – Schwarze queere Feministin, Autorin, Geburtshelferin und Aktivistin für transformative Gerechtigkeit – entwickelt. AEI ist ein transnationales Netzwerk von Basisinitiativen, das in drei europäischen und sieben afrikanischen Ländern – schwerpunktmäßig in Westafrika – aktiv ist. Als AEI streiten wir einerseits für Bewegungsfreiheit, also für die Rechte von Migrant*innen in Deutschland und Europa sowie auf den Migrationsrouten, andererseits für eine selbstbestimmte Entwicklung in den Herkunftsländern (west)afrikanischer Migrant*innen.
Seit 2018 bin ich selbst Teil von AEI – deshalb spreche ich von „wir“. Aus dieser Innenperspektive heraus beobachte ich immer wieder, dass AEI gegenüber anderen links-internationalistischen Bewegungen und klassischen Formen der Nord-Süd Zusammenarbeit eine Sonderstellung einnimmt. Aber woran lässt sich das festmachen? Mittels adrianne maree browns Konzept „Emergent strategy“ möchte ich versuchen, eine mögliche Antwort auf diese Frage zu formulieren.
Emergent strategy als Perspektivenwechsel
Ausgangspunkt von browns Betrachtungen ist das, was ich als orthodoxe Formen politischer Organisierung beschreiben möchte. Wörtlich übersetzt bedeutet orthodox „die richtige Meinung“. Es sind also Bewegungen gemeint, die ihr Ziel darin sehen, eine kritische Masse zu erreichen, das heißt möglichst viele Menschen von ihrer – also der „richtigen“ – Meinung zu überzeugen. brown kritisiert das als maskuline oder patriarchale Form politischer Mobilisierung und stellt dem ihr Konzept von „emergent strategy“ entgegen.
Um „emergent strategy“ zu verstehen, gilt es einen Perspektivenwechsel vorzunehmen. brown begreift die Realität nicht als feste, extern gegebene Größe, sondern als ein lebendiges, komplexes und sich ständig wandelndes Geflecht menschlicher und nicht-menschlicher Beziehungen. Folglich sollten wir als Menschen und Aktivist*innen mit der Welt im Fluss koexistieren, anstatt gegen sie zu arbeiten. Die gegenwärtigen Verhältnisse können wir nur überwinden, wenn wir das verkörpern, wofür wir kämpfen: ein Leben in Würde, kollektive Ermächtigung, Liebe, Gemeinschaft, solidarisches Miteinander-Streiten. Kollektive Transformation und Selbsttransformation gehen Hand in Hand.
Soziale Beziehungen und Weltbezogenheit
Es kommt auf die Qualität unserer Beziehungen an, zu uns selbst, zu anderen Menschen sowie zur nicht-menschlichen Natur, critical connectios statt critical mass – das ist der Kern von „emergent strategy“. Was sich erst einmal banal anhört, hat weitreichende Konsequenzen, stellt es doch die in kapitalistischen Gesellschaften dominante Vorstellung von Realität und sozialem Wandel auf den Kopf. Das sollte allerdings nicht als Fatalismus missverstanden werden, nach dem wir nichts tun können als mit dem Fluss des Lebens zu schwimmen und die Dinge so anzunehmen wie sie kommen. Im Gegenteil: Sozialer Wandel ist gestaltbar, und zwar durch unsere Beziehungsarbeit. „To be in right relationship with change“ – wie brown schreibt – bedeutet nicht zuletzt ein adaptives, relationales In-der-Welt-Sein bewusst zu praktizieren.
Imagination
Des Weiteren muss transformatives Handeln auch Vergangenheit und Zukunft in den Blick nehmen. Denn unser Handeln folgt immer bestimmten Zukunftsimaginationen, die wiederum maßgeblich durch unsere Erfahrungen in der Vergangenheit geprägt sind. Unter Imaginationen versteht brown keine Fantasien oder Utopien, sondern wirkmächtige soziale Diskurse über die zu erwartende persönliche oder kollektive Zukunft. Sie stellt die Frage: Wessen Imaginationen bestimmen über unser Leben? Schreiben sie bestehende Unterdrückungsverhältnisse fort oder helfen sie uns, uns von diesen zu befreien? Einerseits ist das als Einladung zu verstehen, nicht in den Imaginationen anderer zu leben, sondern eigene, emanzipatorische Zukunftsbilder zu entwickeln. Aber vor allem – und diesen Punkt möchte ich stark machen – sehe ich es als Aufforderung, mit bereits existierenden Zukunftsimaginationen außerhalb der weißen, männlichen, besitzenden Dominanzkultur in einen Dialog zu treten.
Linker Idealismus und „Dazuholen“ von Südperspektiven
Meine Ausführungen zu Afrique Europe Interact möchte ich mit zwei Beobachtungen und einer These beginnen.
In Mali arbeiten wir mit der bäuerlichen Basisgewerkschaft COPON (Coordination des Paysans au Office du Niger) zusammen. Die Bauern und Bäuerinnen sprechen sich nicht nur gegen einen Abzug der Bundeswehr aus Mali aus. Auch fordern sie ein verstärktes Engagement Deutschlands in der Entwicklungszusammenarbeit, was bei einem Protestmarsch im Dezember 2021 unter anderem durch das Zeigen der deutschen Flagge unterstrichen wurde. (Für den Hintergrund dieser Forderungen möchte ich auf den Blog unseres Mitstreiters Olaf Bernau verweisen). Jenen linken Bewegungen, die Auslandseinsätze der Bundeswehr und staatliche Entwicklungszusammenarbeit pauschal als imperialistisch oder kolonialistisch verurteilen, dürfte es wohl schwer fallen, solche Forderungen zu unterstützen. Und auch innerhalb von AEI gibt es hierzu unterschiedliche Meinungen und teils kontroverse Diskussionen. Jedoch steht außer Frage, dass die COPON Teil unseres Netzwerks ist und wir die Bauern und Bäuerinnen in ihrem Kampf für Landrechte und Ernährungssouveränität (und allgemein ein selbstbestimmtes Leben in Würde) unterstützen – und dazu zählt auch die hier beschriebene Kundgebung.
Viele Bewegungsakteur*innen in Deutschland fordern mittlerweile, „den Globalen Süden mitzudenken“, um eurozentrische Sichtweisen zu überwinden. Grundsätzlich ist der vermehrte Wille, sich mit Fragen von Rassismus und Kolonialismus zu beschäftigen begrüßenswert. Jedoch folgt daraus nur selten eine ernsthafte Auseinandersetzung mit bestimmten Gesellschaften und Lebensrealitäten im sogenannten globalen Süden. Stattdessen steht die Repräsentation spezifischer „Südperspektiven“ auf Veranstaltungen im Vordergrund – und das oft nach identitätspolitischen Gesichtspunkten. „Für eine Podiumsdiskussion zum Thema Klimagerechtigkeit suchen wir eine Schwarze Frau mit Fluchterfahrung aus Westafrika, die deutsch spricht.“ Anfragen in diesem Stil erreichen uns als Netzwerk regelmäßig. Es dürfte klar sein, dass die Bauern und Bäuerinnen aus dem Office du Niger in Mali nicht in dieses Raster passen – alleine deshalb, weil sie kein Französisch (oder eine andere Kolonialsprache) sprechen – auch wenn sie von den Folgen des Klimawandels direkt betroffen sind.
Ausgehend von diesen Beobachtungen und in Bezugnahme auf adrienne maree brown möchte ich die folgende These formulieren: Auch wenn sogenannte „Südperspektiven“ zunehmend eingefordert werden, mangelt es oft an Bereitschaft, sich ernsthaft mit den komplexen Lebensrealitäten und Problemlagen im sogenannten globalen Süden auseinanderzusetzen. Denn Grundlage für eine ehrliche Auseinandersetzung wäre es, die Beschränktheit von linken Idealen wie Antimilitarismus, Anarchismus oder Veganismus anzuerkennen, anstatt sie als einzig gangbaren Weg der Emanzipation von Ausbeutung und ungerechter Herrschaft hochzuhalten.
Persönliche Beziehungen im Zentrum
Afrique Europe Interact folgt einer anderen Logik, was schon dadurch deutlich wird, dass wir uns nicht als Organisation im Sinne einer NGO (Nichtregierungsorganisation), sondern als transnationales Netzwerk von Basisinitiativen verstehen. Wir sind ein Netzwerk, das auf den persönlichen Beziehungen zwischen Aktivist*innen in europäischen Ländern auf der einen und in afrikanischen Ländern auf der anderen Seite basiert. Als Netzwerk stehen wir im ständigen Austausch sowohl über physische Treffen als auch virtuell in einer großen gemeinsamen Chatgruppe. Denn grundsätzlich gilt: Unsere Form der transnationalen Arbeit erfordert ein ständiges Ringen um gegenseitiges Verständnis und Möglichkeiten der Verständigung.
Hier möchte ich auf einen Aspekt von „emergent strategy“ zurückkommen: den der Weltbezogenheit. Denn statt abstrakten, theoretischen Debatten stehen konkrete Probleme und Lebensrealitäten im Zentrum unseres Austauschs. Letztendlich verbindet uns die geteilte Vision – brown folgend könnte man auch von Imagination sprechen – einer gerechteren Welt, in der Bewegungsfreiheit und selbstbestimmte Entwicklung für alle möglich sind. Oder anders formuliert: Wir kämpfen gemeinsam „für das Recht zu bleiben“ und „für das Recht zu gehen“.
NGO-Logiken
AEI agiert, betrachtet man die unterschiedlichen Aktivitäten und Projekte, die in den jeweiligen afrikanischen Ländern stattfinden sowie die umgesetzten Gelder, de facto als internationale NGO. Jedoch entspricht dies weder unserem Selbstverständnis noch unserer Form der Organisierung. Trotz erklärter (oder tatsächlich angestrebter) Partnerschaftlichkeit verbleibt NGO-Arbeit in einer klaren Geber-Nehmer Logik. Denn letztendlich gilt es, gegenüber den eigenen Spender*innen und einer breiteren deutschen Öffentlichkeit die bekannte Geschichte von "Entwicklungsprojekten" und "Hilfe zur Selbsthilfe" zu erzählen. Auch die Projektpartner*innen im Süden wissen, dass sie in dieser Geschichte mitspielen müssen, um weiterhin Förderung zu erhalten. Das führt dazu, dass Ungleichheiten meist nicht auf einer politisch-strukturellen Ebene angegangen werden. Im Gegenteil: In vielen ärmeren Ländern geht das Arbeiten für eine westliche NGO mit entsprechenden Privilegien einher: ein für lokale Verhältnisse hohes Einkommen, ein Auto mit Allradantrieb, ein hoher gesellschaftlicher Status durch die Arbeit mit Europäer*innen. Meist wird dies nicht problematisiert, sondern als selbstverständlich hingenommen.
Tiefe statt professionelle Beziehungen
Demgegenüber fußt unsere Arbeitsweise – adrienne maree browns Formulierung folgend – auf tiefen Beziehungen, und zwar insofern, dass sie auf geteilten transnationalen Lebensrealitäten beruht. Zwischen der europäischen und der afrikanischen Sektion unseres Netzwerks geschieht dies einerseits durch regelmäßige Besuchsreisen – in beide Richtungen, so weit dies möglich ist. Entscheidender ist jedoch die Praxis der Migration selbst: denn die Lebensrealität von Migrant*innen und ihren Familien (sowohl "hier" als auch in der "alten Heimat") ist bereits eine transnationale. Es ist also kein Zufall, dass AEI unter anderem aus der politischen Selbstorganisation von Migrantinnen und Migranten in Deutschland seit den 1990er-Jahren heraus entstanden ist.
Ein weiterer Punkt, der uns von klassischen NGOs unterscheidet, ist, dass wir versuchen, einen solidarischen Umgang mit Geld zu praktizieren, was die hier beschriebenen tiefen Beziehungen erst ermöglichen. Anders als die meisten NGOs arbeiten wir nach einer umgekehrten Logik: Wir geben erst Gelder aus, die wir dann später, teils durch Spenden, teils durch Förderanträge, wieder einwerben. Das hat den Grund, dass oft kurzfristig Geld benötigen wird oder für Dinge, die nicht (oder zumindest nicht vollständig) planbar sind. Schließlich gilt es anzuerkennen: Die extreme Ungleichverteilung materieller Ressourcen zwischen (West-)Afrika und Europa ist eine ungeheuerliche Ungerechtigkeit, die sich nicht zuletzt daran zeigt, dass einer Mehrheit der Menschen in Westafrika der Zugang zu grundlegender Infrastruktur wie sauberem Trinkwasser, Gesundheitsversorgung und Toiletten verwehrt bleibt. Einerseits sehen wir es als unsere Aufgabe, dies immer wieder zu skandalisieren, andererseits stellt sich die Frage nach einer solidarischen Geldpraxis auch auf privater Ebene. Denn wir werden regelmäßig mit entsprechenden Unterstützungsanfragen konfrontiert.
Abschließende Gedanken
Die hier präsentierten Überlegungen sind der Versuch, die Eigenheiten des Netzwerks Afrique Europe Interact durch die Brille von „emergent strategy“ zu interpretieren. Dass AEI, im Vergleich zu manchen anderen linken Gruppierungen oder NGOs, eher nach den Prinzipien von „emergent strategy“ organisiert ist, möchte ich hier als These zur Diskussion stellen. Denn sicher gibt es, auch innerhalb unseres Netzwerks, verschiedene Perspektiven hierzu. Zuletzt möchte ich betonen: Die Schlussfolgerung zu ziehen, dass AEI dadurch anderen links-internationalistischen Bewegungen überlegen sei, wäre falsch. Ganz im Gegenteil: Eine solidarische linke Praxis setzt voraus, destruktives Konkurrenzdenken und spalterische Dichotomien wie „richtig“ gegen „falsch“ zu überwinden – und das steht ganz im Sinne von adrienne maree brown.
Lieber Lars,
danke vielmals für den Beitrag, der die Bedeutung von Beziehungen und die Frage nach relationaler Gerechtigkeit ins Zentrum rückt!
Critcal Connections Matter! Mit ihrer Hilfe kann es gelingen, sowohl globale Gerechtigkeit zu erreichen, einschließlich der wiedergutmachenden Gerechtigkeit, die es aus dekolonialer Perspektive braucht, als auch die bisherigen Ungerechtigkeiten in den Mensch-/Gesellschaft-Naturbeziehungen zu überwinden.
Das macht mir MUT! Auch dafür danke!
Sehr spannend finde ich den Aspekt der reinen Suche nach Repräsentanz von "Südperspektiven" ohne echte Bereichtschaft sich ernsthaft mit anderen Lebensrealitäten und Zukunftsbildern zu beschäftigen. Ich sehe das auch an manchen Stellen. Wie können wir gemeinsam diese Haltung überwinden?
Vielen Dank für diesen wertvollen und interessanten Beitrag, lieber Lars! Er ist, wie ich finde, ein sehr gutes Beispiel für theoretisch informierte Reflelxion des eigenen Engagements und gerade das ist aus meiner Sicht unverzichtbarer Teil transformativer Bildung, also im besten Wortsinn studies4future! Besonders spannende finde ich den Aspekt der tiefen Beziehungsarbeits als Gelingensbedingung von Wandel. Darüber sollten wir gemeinsam auch jeneits von AEI nachdenken: Wie geht Beziehungsarbeit? Was braucht es dafür? Was können tiefe und tragfähige persönliche Beziehungen zur Transformation beitragen? Inwiefern liegt ih ihnen ein Schlüssel zu mehr Gerechtigkeit und Solidarität?