Interview zum Buch „Organisationen hacken: Einfallstore in eine nachhaltige Arbeitswelt“
Von Sebastian Möller
Am 01.02. ist der Gesprächsband „Organisationen hacken“ im oekom Verlag erschienen. Ihr könnt ihn hier bestellen oder als PDF herunterladen. studies4future spricht mit Sebastian Möller über das Buch, das er gemeinsam mit Lars Hochmann herausgegeben hat und an dem auch einige HfGG-Studierende beteiligt waren. Die Fragen stellt Anne-Ly Redlich, die das Buch illustriert hat.
Wie seid ihr eigentlich auf die Idee gekommen, ein Buch über das „Hacken“ zu machen und was meint ihr genau mit diesem Begriff?
Wann genau der Begriff des institutional hacking, den wir im Buch austesten und entwickeln, das erste Mal ins Spiel gekommen ist, weiß ich schon gar nicht mehr so ganz genau. Gestartet haben wir das Lehrforschungsprojekt im Oktober 2021, als ich selbst noch an HfGG war. Damals waren auch einige deiner Kommilitonen dabei, die aus verschiedenen Gründen am Ende zwar nicht mit einem Kapitel im Buch vertreten sind, aber die die inhaltliche und methodische Ausrichtung des Buches dennoch mitgeprägt haben. Uns hat von Anfang an interessiert, welche Gestaltungsspielräume für die verschiedenen Facetten von Nachhaltigkeit es in Organisationen gibt und wie diese von kreativen und engagierten Organisationsmitgliedern genutzt werden. Wir wollten motivierende Geschichten gelungener Veränderung – im Großen wie im Kleinen – entdecken, verstehen und weitererzählen. Und wir wollten nicht über Menschen aus der Praxis, sondern mit ihnen forschen und schreiben. Damit war dann relativ schnell klar, dass wir kein konventionelles Buch machen werden. Schließlich gibt es davon auch echt schon viele.
Im Laufe des transdisziplinären Forschungs- und Schreibprozesses haben wir dann gemeinsam immer mehr Klarheit über das „Hacken“ als einen spezifischen Modus der Organisationsgestaltung gewonnen. Für uns ist institutional hacking eine kreative, experimentelle, pragmatische, manchmal subversive aber stets unkonventionelle Form, in Organisationen wahrgenommenen Missständen jenseits des Dienstweges und eingespielter Routinen entgegenzuwirken. Das geht oft mit dem Brechen, Dehnen und Reformulieren der Spielregeln in der Organisation einher. Wir haben uns bewusst begrifflich bei der sozialen Gruppe bedient, die wir gemeinhin als Hacker*innen kennen, denn auch sie suchen gemeinsam nach Abkürzungen, sind skeptisch gegenüber Autoritäten und versuchen an Stellen in Systeme einzudringen, um sie zu verändern, an denen das eigentlich nicht vorgesehen war. Nach der intensiven Lektüre und Reflexion aller empirischer Kapitel des Buches, haben mein Co-Herausgeber Lars Hochmann und ich gemeinsam eine Liste mit 11 charakteristischen Merkmalen des Hackens erstellt, die hoffentlich ganz gut zusammenfasst, was wir unter dem Begriff verstehen.
Spürsinn: Hacker*innen dringen an Stellen in Systeme ein, an denen dies nicht vorgesehen war. Sie suchen spielerisch nach dem Weg des geringsten Widerstandes.
Regelbruch: Hacker*innen unterwandern Normen. Sie verändern Normalitätsvorstellungen durch Ersetzung, Versetzung oder Neusetzung von Regeln.
Regelselektivität: Hacker*innen gehen beim Regelbruch strategisch und selektiv vor. Sie verwerfen manche Regeln und wenden andere gezielt gegen den Status quo.
Grenzverschiebung: Hacker*innen loten Grenzen aus. Sie reizen, dehnen, stauchen oder verbiegen Regeln, dekonstruieren und rekonstruieren Bestehendes.
Pragmatismus: Hacker*innen suchen nach hinreichenden Lösungen im Hier und Jetzt. Sie arbeiten mit gegebenen Mitteln, prototypisch und ohne Anspruch auf Perfektion.
Zweckentfremdung: Hacker*innen rekombinieren Ressourcen. Sie übertragen Dinge, Wissen oder Praktiken in ungewöhnliche Kontexte oder neuartige Konstellationen.
Selbstermächtigung: Hacker*innen werden aus eigener Kraft aktiv. Sie erweitern ihre Gestaltungsspielräume in Bereichen und Weisen, die so nicht vorgesehen waren.
Selbstbefähigung: Hacker*innen lernen Gestaltung durch Gestaltung. Sie befähigen andere und sich selbst und lernen aus Rückschlägen und Irrtümern.
Reflexivität: Hacker*innen verstehen ihre eigenen Handlungsvoraussetzungen. Sie hinterfragen anderes, andere und sich selbst und können ihre Praxis begründen.
Werteorientierung: Hacker*innen wenden sich gegen Strukturen, die nicht mit ihren normativen Überzeugungen übereinstimmen. Sie gestalten mit Haltung und Purpose.
Gemeinschaft: Hacker*innen identifizieren Verbündete mit ähnlichen Anliegen und arbeiten im Team. Sie fokussieren kollektiven, nicht individuellen Fortschritt.
(Hochmann/Möller 2024, S. 407 f.)
Durch institutional hacking wird also auf eine praktische und konkrete Art und Weise deutlich, dass Organisationen und ihre Arbeitsweisen auch ganz anders aussehen könnten. Übrigens hat auch deine Arbeit an den Illustrationen und das gemeinsame Nachdenken über mögliche bildliche Darstellung der verschiedenen Hacks zur Begriffsklärung beitragen! Diese Begriffsarbeit ist aber natürlich nicht abgeschlossen und wir würden uns wirklich sehr über Feedback und Fragen dazu freuen.
Ja, für mich war es definitiv auch eine Herausforderung, einen so abstrakten Begriff wie “Hacking” grafisch darzustellen – und dann auch noch außerhalb seines ursprünglichen Kontexts. Ich denke, alles in allem ist es uns aber ganz gut gelungen, auch dank dem guten gemeinsamen Austausch über Ideen. Es hat auch Spaß gemacht, Aspekte wie das “Zweckentfremden” ins Bildliche zu bringen, zum Beispiel durch das Umfunktionieren von Formen, Kombination von verschiedenen Symboliken oder das Spiel mit verschiedenen Bildebenen.
„Organisationen hacken“ ist tatsächlich kein konventionelles Buch. Bei den einzelnen Kapiteln handelt es sich weder um klassische Sammelbandbeiträge mit Literaturverzeichnis noch um Interviews. Vielmehr können wir im Buch Gespräche nachlesen. Was steckt hinter dieser ungewöhnlichen Form?
Stimmt. Wir betreten mit dem Buch tatsächlich methodisches Neuland. Es ist ganz schön gewagt, gleichzeitig einen neuen Begriff und eine neue Methode vorzuschlagen. Die Zeiten und Herausforderungen sind aber eben auch besondere. Wir glauben, dass transdisziplinäre Forschung, die konsequent auf die Co-Kreation von Wissen setzt und dabei verschiedenen Wissensformen integrieren möchte, um zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beizutragen, ihre Ergebnisse auch für ein möglichst breites Publikum zugänglich und verständlich machen sollte. Das Format des schriftlichen Gesprächs ist ein Angebot, das genau dieses Ziel verfolgt. Ob uns das gelingt, müssen andere beurteilen. Noch bedeutender ist aber aus meiner Sicht, dass sich die Gespräche stark von Expert*innen- oder narrativen Interviews unterscheiden, die in der qualitativen empirischen Sozialforschung ja zum methodischen Standardrepertoire gehören. In den informal written conversations, wie wir sie nennen, heben wir die Trennung von Datenerhebung und Datenauswertung auf. Wir sortieren, reflektieren und interpretieren bereits in den schriftlichen Gesprächen, und zwar – und das ist mir besonders wichtig – gemeinsam. Deshalb sind natürlich auch beide Gesprächspartner*innen Co-Autor*innen des jeweiligen Kapitels.
Und wie sind die Kapitel genau entstanden?
Die im Buch abgedruckten Texte sind dabei keinesfalls „nur“ die Wiedergabe des tatsächlichen Gesprächsverlaufes, sondern das Ergebnis einer intensiven gemeinsamen Arbeit am Text. Die Gespräche wurden meist über mehrere Wochen hin weg im Ping-Pong-Modus geführt. Dabei wurde das gemeinsame Word-Dokument immer wieder hin und her geschickt, Textstellen kommentiert und bearbeitet, neue Fragen ergänzt und beantwortet. Die Texte sahen zwischendurch echt wild aus! Das hat allen Beteiligten viel Energie und Geduld abverlangt aber zugleich eben auch intensive und iterative Lernprozesse auf allen Seiten ausgelöst. Ich würde fast sagen, dass das Buch schon in seiner Entstehungsphase eine transformative Wirksamkeit entfaltet hat. Jedenfalls hat sich für mich so angefühlt. Ähnlich wie bei der Begriffsarbeit bin ich auch in Bezug auf Methode und Publikationsform sehr auf Rückmeldungen und Leseeindrücke gespannt.
Ich finde übrigens auch ganz unabhängig von diesem Buchprojekt, dass wir die Kunst, ein gutes Gespräch zu führen, vielmehr kultivieren sollten – und zwar gerade mit Menschen, die anders sind, denken und handeln als wir selbst. Wir brauchen deutlich mehr aufrichtiges Interesse an anderen Perspektiven. Mich beschäftigt schon länger die Frage, wie wir eine neue Gesprächskultur einüben und pflegen können. In den Gesprächen mit Viola, Corinna und Almut gibt es dazu wichtige Hinweise und das Buch ist insgesamt ein Plädoyer für Miteinanderreden. Mir gefällt besonders, dass bei den Geburtsjahrgängen im 30köpfigen Autor*innen-Team alle Jahrzehnte von den 1950er bis zu den 2000er Jahren vertreten sind und wir auf diese Weise unterschiedliche Generationen ins Gespräch gebracht haben.
Wer ist die Zielgruppe eures Buchs? Wer sollte es unbedingt lesen?
Unser Buch richtet sich an alle Menschen, die gerne anders arbeiten und sich nicht länger mit den Missständen in ihren Organisationen abfinden wollen. Gerade ihnen können die vielen Beispiele gelungener Veränderung Inspiration geben und Mut machen. Es ist ein Buch von und für Menschen, die nicht länger auf andere warten wollen, um die Welt nachhaltiger zu machen. Durch die breite Auswahl von Organisationsformen, -abläufen und -kontexten, ist wirklich für sehr verschiedene Interessen etwas dabei. Eigentlich haben die 23 Gespräche mind. 23 Zielgruppen und das Tolle am open access ist ja, dass man sich nicht für oder gegen das ganze Buch entscheiden muss, sondern einfach ein einzelnes Gespräch lesen (oder verschicken) kann. Ich würde mich z.B. wirklich freuen, wenn viele Lehrkräfte und Schulleitungen das Gespräch von Jens und Philip über „Schulen hacken“ lesen, wenn sich Handwerksmeister*innen von Jessica inspirieren lassen oder Mitarbeitende und Kunden in der Gebäudereinigung durch Julias Erfahrungen neue Anregungen bekommen. Viele Kapitel sind aus meiner Sicht besonders für Unternehmer*innen und Gründer*innen sehr relevant. Hoffentlich stößt unser Buch auch in Universitäten und Hochschulen auf Interesse, und zwar nicht nur (aber gerne auch) bei Organisationsforscher*innen. Wem würdest du denn das Buch oder einzelne Kapitel empfehlen?
Als Studentin der HfGG und Mitglied im dazugehörenden Studierendenverein für Gesellschaftsgestaltung liebe ich natürlich besonders das Kapitel “Studierendenwerke hacken” von meinen lieben Mitstudierenden Leonie Tasse und Lorenz Kramer, in dem es um unsere Selbstorganisation als Studierendenschaft im genannten Verein geht. Wer sich für ein Studium an der HfGG und unsere Arbeit in der selbstorganisierten Studierendenschaft interessiert, wird in Zukunft dieses Kapitel von mir zu lesen bekommen.
Du hast eben gesagt, das Buch hatte schon im Entstehungsprozess eine transformative Wirkung. Was hat sich für dich durch Arbeit daran verändert?
In einigen Gesprächen habe ich ja auch meine eigene Praxis reflektiert, insb. im Gespräch mit Theres über Arbeits- und Lernräume und im Gespräch mit Lars über Wissenschaft. Das hat mir geholfen noch mehr Klarheit über eigene Ziele und Hebel zu bekommen. Insgesamt hat mir das Format ermöglicht, mich stärker als ganze Persönlichkeit im Forschungs- und Schreibprozess zu zeigen. Das war eine sehr schöne Erfahrung, die ganz bestimmt auch Folgen für meine nächsten Projekte haben wird. Mir ist noch klarer als vor dem Projekt, wie wertvoll und persönlich bereichernd transdisziplinäre Forschung und wie wichtig es mir ist, mit meiner Arbeit einen transformativen Impact zu erzielen. Ich habe spannende Menschen kennengelernt und die Zusammenarbeit mit Menschen, die ich bereits kannte, intensiviert. Dadurch ist die Qualität meiner zwischenmenschlichen Beziehungen enorm gestiegen und es sind viele Ideen für Anschlussfragen und -projekte entstanden. Darüber hinaus habe ich große Lust bekommen, mich stärker in transformative Projekte jenseits meiner Arbeit als Forscher und Lehrender einzubringen, z.B. in eine SoLaWi oder einen genossenschaftlichen Supermarkt. Frag mich gerne am Ende des Jahres nochmal, was daraus geworden ist!
Da nehme ich dich beim Wort!
Jetzt seid ihr aber dran! Welche Fragen habt ihr zum Buch? Wie gefällt es euch? Was ist euch beim Lesen ein- und aufgefallen? Wie findet ihr das Format der schriftlichen Gespräche? Welches Gespräch findet ihr besonders spannend? Welche anderen Beispiele für institutional hacking kennt ihr? Lasst doch gerne einen Kommentar da!
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